Das Requiem: Die Nacharbeit.

Der Albert-Schweitzer-Chor widmet das Requiem Matthias Ostermann und Andreas Tösch.

Herzblut, Tränen und Schweiß.

Saftige Flüche, Verzweiflung und Jauchzen.

Zwei Jahre harte Arbeit.

 

Das alles steckt in dem Konzert drin, das wir am 16. November 2013 hingelegt haben.

 

 

Als kleiner Chorsängerin ist mir diesmal ganz besonders aufgefallen, wie sehr die Wahrnehmung von der Situation abhängt.

 

Hieß es in den Chorproben: Abbrechen - Wiederholen - Schleifen - Feilen - Abbrechen - Querkontexte erfassen - Ziselierarbeit leisten - Wiederholen - Feilen - erwähnte ich schon Abbrechen und Wiederholen? Gern auch sechs, sieben Mal hintereinander für zwei Takte... Knochenarbeit. Zwei Jahre lang.

 

In den Orchesterproben habe ich gemerkt, dass der Chor - gleich, wie substantiell er mir in den Proben war! - nur einen Teil des Kunstwerkes stellt. Plötzlich kommen händeweise neue Dimensionen dazu: Instrumentengruppen fächern sich in Klangflächen auf. Einem Klavier wird über die Saiten irrlichtert. Weit gespreizte Pianistenhände landen mit voller Kraft und Wucht auf den Tasten - soviel Töne sie nur erwischen können. Und wie ein Blitz in Zeitlupe schwebt ein Sopransolo aus einer anderen Welt heran.

 

So war es noch einmal etwas ganz anderes, im Konzert mittendrin in diesem Bienenschwarm aus Tönen, Flächen, Klängen, Reibungen und un(ter)irdischen Harmonien zu stehen und in diesem umfassenden Summen und Surren und Brausen der Elemente aufzugehen.

 

Und dann höre ich mir die CD an: So klingt es für das Ohr von außen. Wieder ein anderer Eindruck: Ein Gesamtwerk, das so fordernd ist, dass viele der Details, die in den früheren Perspektiven maßgeblich waren, fast völlig untergehen. Die Wucht des unerbittlichen Schreitens der Bässe im Dies Irae als Fundament für das Leben, die Zeit, die nicht aufzuhalten ist. Ein Schreien und Schweben der Stimmen, bisweilen so chaotisch anmutend, wie es im Leben manchmal sein kann. Zuviele Details.

 

Ich muss es mir noch oft anhören, bis ich mich auch nur ein kleines bisschen in diesem Moloch an Schönheit und Kosmos wiederfinde...

Erkki-Sven Tüür lebt. In Estland. Er komponiert und musiziert. 

Eines unserer Chormitglieder hat ihn angemailt: Wir führen Ihr Requiem auf. Ist es die österreichische Uraufführung?

Daraufhin antwortet ein erfreuter Herr Tüür - und stellt die Konzertankündigung auf seine Homepage. Das freut uns! Dankeschön!

 

NEUE WELTEN

 

Wir stehen am Ende unserer Probenzeit für den Tüür!

 

Zwei Jahre haben wir gearbeitet, geschwitzt, gefeilt wie Pferde.

 

Tüür singen bedeutet, von den üblichen schönen Hörgewohnheiten sich zu verabschieden und in neue Klangwelten abzutauchen.

 

Tüür singen heißt Zwiebeln schälen: Die Schale außen ist struppig und rauh und kaum genießbar. Disharmonisch, zu Tränen treibend, scheußlich.

 

Dann begint man zu schälen. Einzutauchen. Ganz langsam. Und je weiter man durch die Schichten kommt, desto desaströser wird alles: ein komplexes Universum voller Schatten und Licht und Klangeindrücke - ohne Seil zum Anhalten. 

 

Und irgendwann, in kleinen Mosaiksteinchen, beginnen Elemente, sich neu zusammenzufügen.

Auf ungewohnte Art. Es entstehen neue Komplexe. Bei den SängerInnen neues Verständnis für eine Art Klanguniversum, eine Musik, die andere Arten Kommunikationswege nutzt.

 

ABER sie erreicht dich.

 

Die Scheußlichkeiten erschaffen neue Flächen, Ideen, Lichtbahnen. Und plötzlich steht man im Chor und fühlt sich mitten unter vielen Bienenschwärmen: von außen unharmonisch. Von innnen ein atemberaubendes, ein überwältigendes Zusammentreffen der Harmonien, ein unerbittlicher Rhythmus und Schritt, der die Seelen und Körper mitnimmt.

 

Das Drohen eines Dies Irae, das uns jeden Tag einen Schritt näherkommt - und vor dem es kein Entrinnen gibt.

 

Das flehentliche Bitten des Lacrimosa in einer Existenz voll Angst und Hoffnung - ad vitam aeternam.

 

Der Lobpreis des Sanctus, das sich getraut hat, über den eigenen Schatten zu springen.

 

Vertrauensvoll und sanft das Agnus Dei, denn die Seele hat Halt gefunden.

 

Und abschließend die tiefempfundene Bitte der Musik für die Seelen dieser Welt:

 

Requiem aeternam dona eis, Domine.

 

Gib ihnen die ewige Ruhe, führe sie zu dir. Wir bitten dich aus tiefster Seele.

 

 

 

Der Albert-Schweitzer-Chor widmet dieses Requiem

Matthias Ostermann und Andreas Tösch.

 

Wir singen diesen Menschen das Requiem, denn beide sind viel zu zu früh von uns gegangen und hinterlassen schmerzende Lücken.

 

 

 

 

Für Matthias Ostermann, Andreas Tösch, Sie und uns singen wir das Requiem. Lassen Sie uns das gemeinsam erleben.